Kritische Besprechung des Beschlusses des BVerfG vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 („einrichtungsbezogene Impfpflicht“)
Mit der üblichen Lobhudelei feiert Bundesjustizminister Marco Buschmann das 73jährige Bestehen des Grundgesetzes. „Denn für unser Grundgesetz können wir dankbar und, ja, auf unser Grundgesetz können wir stolz sein“, meint er in der Welt. Wenn eine Regierung die Verfassung in höchsten Tönen lobt, ist dies als ein vergiftetes Kompliment zu begreifen. Deutlicher kann nicht zum Ausdruck kommen, dass die Verfassung den Regierenden nur ungenügend Grenzen setzt. In Anbetracht der offenkundig verfehlten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Impfzwang in Pflege und Medizin wirkt das Lob besonders zynisch.
Der Beschluss ist eine Absage an althergebrachte Grundsätze des bundesdeutschen Verfassungsrechts. Die Begründung ist nicht schlüssig und wieder einmal in sich widersprüchlich. Wesentliche Grundrechtsprüfungen werden unterlassen. Einseitig und apodiktisch folgen die Richter dem Dogma ihrer von Tagesschau, F.A.Z. und Konsorten unterhaltenen Propaganda-Blase. Dabei verlassen sie sich blind auf die wachsweichen Aussagen der Regierung selbst, in Gestalt der Bundesbehörden RKI und PEI, statt sie auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.
Aushöhlung der körperlichen Unversehrtheit
Im Grunde entwertet das Bundesverfassungsgericht das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fast vollständig. Es stellt selbst fest, dass die sog. „Impfstoffe“ gegen Covid-19 schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen und sogar den Tod zur Folge haben können (Rn. 231). Eigentlich wäre damit die verfassungsrechtliche Prüfung nach dem bisherigen Verständnis der Reichweite der Grundrechte beendet. Laut Art. 19 Abs. 2 GG darf ein Grundrecht „in keinem Falle“ in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Wenn jedoch nun schon eine schwerwiegende dauerhafte Gesundheitsbeeinträchtigung und sogar der Tod nicht den Wesen der körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigen soll, stellt sich die Frage, was denn überhaupt von diesem Grundrecht im innersten Kern geschützt ist. So selten solche Wirkungen der vorrübergehend bedingt zugelassenen genetischen Stoffe auch sein mögen, wäre eine Diskussion des Wesensgehalts dieses Grundrechts unvermeidlich gewesen. So bleibt nur eine Auslegung dieses unglücklichen Beschlusses: die körperliche Integrität der in Deutschland lebenden Menschen kann mit jeder fadenscheinigen Begründung aufgeboben werden, solange sie sich nicht nur auf gänzlich unhaltbare Prognosen bezieht. Einzig Todesstrafe und körperliche Misshandlungen sind (noch) ausgeschlossen (Art. 102, 104 GG).
Aufgrund dieses dogmatischen Fehlers springt das Bundesverfassungsgericht auch sogleich auf eine Abwägungsentscheidung im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Aussagen zur Geeignetheit und Erforderlichkeit der Impfpflicht offenbaren die mentale Abhängigkeit der Richter von ihrer eingeengten Wahrnehmung der Covid-Erzählung. Das Credo einer pandemischen Situation mit ungewöhnlichen Gesundheitsgefahren für die ältere Bevölkerung wird genauso heruntergebetet, wie der fast religiöse Glaube an die Wirksamkeit der in Windeseile vom Himmel gesandten Wundermittel. Die wissenschaftlich unbestätigten Thesen der Aerosolübertragung und der Akkumulation von Krankheitserregern über die Zeit werden als „weitgehend gesicherte Erkenntnislage“ verkauft (Rn. 180).
Bei der Bewertung der Gefahrensituation meint das Gericht, sich alleine auf das an das Bundesgesundheitsministerium angegliederte Institut beziehen zu können. Auf die Idee, dass sich ein Regierungsinstitut selbst bei guten Absichten auch mal irren kann oder Bewertungsfehler macht, kommt das Gericht nicht. Obgleich selbst in den Meldungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks des Öfteren Mängel bei der Erhebung und Auswertung von Daten beim RKI adressiert wurden und sich auch das PEI mit Statistiken vorsichtig bedeckt hält, werden die deutschen Daten keiner Plausibilitätsprüfung unterzogen. Das Auswerten wissenschaftlicher Literatur und Vergleiche zur Datenlage anderer Länder übersteigen den Vorstellungshorizont der Richter.
Nicht schlüssig und juristisch vollends unverständlich sind die Ausführung zur Angemessenheit im engeren Sinne. Das Übermaßverbot sei nicht verletzt, weil einerseits nur unwahrscheinliche schwere Nebenwirkungen bei den Beschwerdeführern, aber andererseits erhebliche Gesundheitsgefahren bei der älteren Bevölkerung auszumachen seien. Hier rechnet das Gericht also das Leben der einen gegen das Leben der anderen gegen. Solch eine Abwägung grundrechtlich gleichermaßen geschützter Menschenrechte verbietet sich eigentlich. Sie ist juristisch einfach unmöglich. Dies wird deutlich, wenn man den umgekehrten Fall betrachtet: die Pflegekräfte und Ärzte könnten genauso gut verlangen, dass besonders gefährdete Personen nicht behandelt werden dürfen, weil diese ja ebenso eine Ansteckungsgefahr für die Pflegenden darstellen.
Hätte das Bundesverfassungsgericht daran festgehalten, dass Grundrechte Abwehrrechte gegen den Staat sind und keine Pflichten der Bürger gegenüber anderen Bürgern, wäre ihm der Logikfehler wahrscheinlich selbst aufgefallen. Allerdings ist in der Rechtsprechung aus Karlsruhe bereits seit einiger Zeit die unrühmliche Umkehrung der Grundrechte in Grundpflichten zu erkennen. Nicht mehr muss der Staat Vorkehrungen treffen, um die Bürger zu schützen oder ihre Freiheiten zu garantieren. Der Bürger wird vielmehr genötigt, aktiv an der Verwirklichung parteipolitisch begehrter Ziele mitzuwirken. Ob es die Rundfunkfinanzierung, die Klimapolitik oder eben das globale Impfziel ist: Das Gros der Bürger wird zum Vorteil von Partikularinteressen entrechtet.
Nicht nur werden die Grundfreiheiten insoweit eingeschränkt, wie sie die Grundrechte anderer oder überragende Ziele des Gemeinwohls gefährden. Vielmehr wird nun ein passives Abwehrrecht gegen den Staat (körperliche Unversehrtheit) in ein Freiheitsrecht umgedeutet, als ob es ein Privileg wäre, ohne körperliche Schäden zu leben. Entsprechend befasst sich die Prüfung der Angemessenheit auch nicht mit dem aufgestellten Obersatz, wonach der mit dem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verfolgte Zweck nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen darf (Rn. 203). Das Gericht greift vielmehr in die rhetorische Trickkiste und konstatiert, dass das Selbstbestimmungsrecht der Impfgenötigten „zumindest dem Grunde nach“ fortbestehe (Rn. 221). Man könne die betroffene Tätigkeit aufgeben, um die Impfpflicht zu vermeiden. Sodann reduziert es die Angemessenheitsprüfung auf den Maßstab des Grundrechts der freien Berufswahl nach Art. 12 GG. So muss es sich nicht mehr mit der Frage befassen, ob ein Gesetz den Tod eines Menschen in Kauf nehmen darf, um einen anderen möglicherweise zu retten. Das ist offenkundig inkonsequent. Entweder besteht faktisch ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die körperliche Selbstbestimmung wird aufgehoben, oder es ist eben nur die Berufswahlfreiheit betroffen.
In diesem Zusammenhang verwundert es, dass das Gericht nicht ein Wort zur Menschenwürde verliert. Dabei drängt es sich geradezu auf, dass die Pflegekräfte robotergleich zu willenlosen Objekten der Pharmaindustrie degradiert werden, was nach der bislang anerkannten Objekttheorie zu einem unzulässigen Eingriff in Art. 1 GG führt. Zwar wäre eine Prüfung der Menschenwürde bei Bejahen der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit von geringem Mehrwert. Bei Verneinen eines solchen Eingriffs kann sie allerdings das wesentliche Korrektiv darstellen, um als letzte Barriere eine staatliche Übergriffigkeit einzudämmen.
Schließlich verkennt das Bundesverfassungsgericht die Reichweite der Europäischen Grundrechte. Bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hätte das Gericht Art. 3 Abs. 2 GRCh berücksichtigen müssen, da die betreffenden genetischen Pharmaprodukte europaweit zugelassen sind. Diese Zulassung steht in unmittelbarem Kontext der Vorgabe der Grundrechtecharta, dass medizinische Eingriffe freiwillig sein müssen. Diese Vorgabe ist ungeschriebene inhärente Bedingung der europaweiten Zulassung einer Arznei. Der freie Wille wird bei einer möglichen Zwangslage aufgrund der bußgeldbewehrten Nachweispflicht jedoch erheblich eingeschränkt, wie das Bundesverfassungsgericht selbst feststellt.
Dilettantische Zahlenakrobatik
Bei der Einordnung der Risiken der „Impfstoffe“ bezieht sich das Bundesverfassungsgericht lediglich auf die Zahlen des PEI, das für seine mangelhaften Statistiken und das Verheimlichen von Nebenwirkungen bereits in die Kritik geraten ist. Die gemeldeten Daten scheinen erheblich unterberichtet zu sein. Ausländische Zahlen zieht das Gericht nicht heran, obwohl gerade die angelsächsischen Länder in der Regel gut verwertbare Statistiken vorhalten.
Selbst die Zahlen des PEI interpretiert das Gericht falsch. Für schwerwiegende Reaktionen wird eine Melderate von 0,2 Meldungen pro 1.000 Impfdosen festgestellt (Rn. 224). Dies wird als „sehr selten“ eingeordnet (Rn. 242). Dies entspricht schlichtweg nicht den Fakten. Bei umgerechnet 2 Meldungen pro 10.000 Anwendungen wird von seltenen Nebenwirkungen ausgegangen und eben nicht sehr seltenen, „höchst selten“ (Rn. 223) oder gar äußerst seltenen. Für präventive Arzneien sind seltene Nebenwirkungen für die im Wesentlichen nicht gefährdete Gesamtbevölkerung inakzeptabel.
Gleiches gilt für die Häufigkeit von bestätigten tödlichen Verläufen der Injektion. Hier wurden immerhin fast 2.000 Verdachtsfälle gemeldet, von denen sogar 78 bestätigt worden waren (Rn. 225). Das sind keine Einzelfälle mehr, die als „extrem selten“ bewertet werden könnten. Impfkampagnen mit mehr als 50 Verdachtsfällen mit tödlichem Ausgang wären in früheren Zeiten sofort gestoppt worden.
Was jedoch besonders aufstößt: die Gefährlichkeit einer Arznei ist nicht absolut messbar, sondern im Kontext des Krankheitsrisikos zu beurteilen. Wenn es sich – wie bei Corona-Symptomen – um mehr oder weniger schwere Erkältungen handelt, ist naturgemäß ein strengerer Maßstab vonnöten als etwa bei Krebstherapeutika. Daher wären konkrete Zahlen zur Gefährlichkeit der pandemischen Krankheit gegenüberzustellen gewesen. Dies vermeidet das Gericht jedoch – offenkundig getrieben vom Bemühen, die relative Milde der bekämpften Krankheit zu verschleiern. Jede Grippewelle trägt ein ähnliches Sterblichkeitsrisiko. Der Vergleich des Pandemieverlaufs mehrerer Länder mit unterschiedlichen Maßnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten widerlegt zudem die These des Präventionsparadoxons. Dies sind mittlerweile allgemein bekannte und mehrfach wissenschaftlich belegte Fakten, die das Gericht schlichtweg ignoriert.
Kleiner Hoffnungsschimmer?
Trotz der mangelhaften Begründung und der juristisch ungenügenden Argumentation kann der Beschluss wenigstens zur Abwendung der allgemeinen Impfpflicht angeführt werden. Zentrale Prämisse für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Nachweispflicht ist es, dass eben kein auch nur mittelbarer Zwang zur Impfung besteht, der Bürger also der Impfung durch Aufgabe der Tätigkeit ausweichen kann. Bei einer allgemeinen Impfpflicht der Bevölkerung oder bestimmter Altersgruppen hingegen kann keine Handlung dem Zwang entgehen. Daher dürfte eine solche Pflicht unter keinen Umständen verfassungsgemäß sein. Gleiches gilt aufgrund der Schulpflicht für den Masernimpfzwang von Schülern. Nichtsdestotrotz kann dem Beschluss auch insoweit nicht vertraut werden, weil das Bundesverfassungsgericht offenkundig keinerlei Probleme hat, sich selbst zu widersprechen und den politischen Tagesvorgaben unterworfen zu sein scheint. Am ehesten wird dem deutschen Bürger die Hoffnung einer europaweiten Rechtsprechung bleiben, die möglicherweise noch initiiert werden kann.
Witzigerweise nimmt Buschmann in dem eingangs erwähnten Artikel auf die vier apokalyptischen Reiter der Johannesoffenbarung Bezug. Die von der globalen Finanzelite wie Quartettkarten im Wechsel ausgespielten Krisen Krankheit, Hunger, Krieg und Tyrannei beeinträchtigen zunehmend unsere freie Lebensgestaltung. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts wäre es gewesen, uns Bürger vor dem weißen Reiter zu schützen, der Unterdrückung und Entrechtung. Stattdessen hat es der neuen Weltordnung des Autoritarismus Tür und Tor geöffnet. Ist die Festung einmal offen, werden auch die anderen Reiter hineingelangen, um ihr Unheil zu vollbringen.
Titelbild: Von Wiktor Michailowitsch Wasnezow, gemeinfrei.
Ergänzende Kritik:
Jessica Hamed: Bundesverfassungsgericht: Postfaktischer Wegbereiter des paternalistischen Staates
Friedemann Däblitz: Anmerkungen zur Entscheidung (PDF)