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“Frag den Grüneberg” – Wenn der Kommentar sprechen lernt

Ein Praxistest der neuen KI-Anwendung des Beck-Verlags.

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde – nun auch in der Rechtsberatung. Während Legal Tech Start-ups seit Jahren versuchen, die juristische Arbeit zu revolutionieren, hielt sich die etablierte Verlagswelt bisher vornehm zurück. Der Beck-Verlag hat nun als einer der ersten deutschen Rechtsverlage den Sprung gewagt und öffnet seine Inhalte für KI-gestützte Anfragen. Angesichts der hoffnungslos veralteten Suchfunktion in beck-online war dies auch höchste Zeit – wer kennt nicht die frustrierenden Momente, wenn man zum x-ten Mal durch irrelevante Treffer scrollt?

Allerdings fällt der erste Versuch erstaunlich bescheiden aus: Lediglich der BGB-Kommentar “Grüneberg” wurde für die neue Technologie freigegeben. Für stolze 50 EUR Aufpreis – wodurch sich der Gesamtpreis auf 175 EUR beläuft – erhält man für ein Jahr Zugang zu einer Chat-Applikation, die genau einen Kommentar durchsuchen kann. Die Wahl des Grüneberg erscheint dabei etwas eigenwillig, ist er doch bisher nur als Print-Produkt erhältlich. Vermutlich hofft der Verlag, seinem “Backstein” damit neuen Glanz zu verleihen.

Die Anmeldung – Ein digitaler Hindernislauf

Wer sich auf das Abenteuer einlässt, muss zunächst eine bemerkenswert umständliche Anmeldeprozedur durchlaufen. Zwei separate Rubbelfelder – eines im Buch, eines auf einer beiliegenden Karte – müssen freigelegt werden. Nach der obligatorischen beck-online Registrierung folgt die Eingabe eines unnötig langen Buchstaben-Zahlen-Codes, bei dem die Unterscheidung zwischen “1” und “l” sowie “O” und “0” zum Geduldsspiel wird. Bei Fehleingaben bleibt es dem Nutzer überlassen herauszufinden, welcher der beiden Codes falsch sein könnte.

Drei Wege zum Ziel?

Die Anwendung bietet drei verschiedene Eingabemöglichkeiten, was auf den ersten Blick nach Vielfalt klingt, im Kern aber überflüssig erscheint:

1. Suche im Grüneberg

Diese Funktion erinnert stark an die klassische beck-online Suche – mit allen bekannten Schwächen. Die Suche versteht nur exakte Treffer und ist gegen Schreibfehler nicht tolerant. Wer “Shadensersatz” eingibt, geht leer aus. Umgangssprachliche Begriffe wie “Dieselgate” führen zu null Treffern. Die Ergebnisdarstellung ist wenig hilfreich, da oft zu viele irrelevante Treffer angezeigt werden.

2. Frag den Grüneberg

Hier zeigt sich das wahre Potenzial der KI-Integration. Die Funktion versteht auch ungenaue Anfragen und findet beispielsweise die relevanten Einträge zum Dieselskandal, selbst wenn man nach “Rechtsprechung zu Dieselgate” sucht. Kurioserweise können keine einzelnen Begriffe verwendet werden. Die Darstellung der Fundstellen ist übersichtlich, wobei sowohl der Original-Kommentartext als auch eine KI-generierte Langfassung angeboten werden. Besonders praktisch: Beim Kopieren werden die Fundstellen automatisch in Klammern mitgeliefert – perfekt für die direkte Verwendung in eigenen Dokumenten.

Allerdings gibt es einen erheblichen Nachteil: Es sind keine Nachfragen möglich. Jede neue Frage startet einen komplett neuen Dialog. Die Antworten fallen zudem sehr ausführlich aus – während andere KI-Systeme wie Claude oder ChatGPT standardmäßig prägnante, stichpunktartige Antworten liefern.

3. Sprich mit dem Grüneberg

Die vermeintlich innovativste Funktion entpuppt sich als größte Enttäuschung. Gedacht als interaktives Tool für Falllösungen, scheitert sie an einem offenbar sehr kleinen Kontext-Fenster. Die App “vergisst” vorherige Anfragen so schnell, dass ein zusammenhängender Dialog unmöglich ist. Nachfragen werden ohne Bezug zum Ausgangsfall beantwortet, wodurch die Funktion für komplexere Rechtsfragen praktisch unbrauchbar ist.

Technische Implementierung

Interessanterweise hat sich der Beck-Verlag entschieden, die technische Umsetzung an einen externen Dienstleister auszulagern. Eine fragwürdige Strategie, wenn man bedenkt, dass die Zukunft der juristischen Recherche unweigerlich KI-basiert sein wird. Das verwendete System scheint auf einem RAG-Ansatz (Retrieval-Augmented Generation) zu basieren, der sowohl Vektor-Indexierung als auch exakte Suchbegriffe ermöglicht. Das zugrundeliegende Language Model wurde offenbar für juristische Sprache optimiert oder nachtrainiert, wobei der Verlag sich über die Details ausschweigt.

Praxistest anhand konkreter Beispiele

Die Funktionen lassen sich am besten anhand konkreter Beispiele ablesen, die im separaten PDF-Dokument mit dem Chatprotokoll nachgelesen werden können.

Beispiel 1: Produkthaftung

Die Frage “Wann kann ein Käufer Schadensersatz wegen eines fehlerhaften Produkts verlangen?” offenbart sowohl Stärken als auch Schwächen des Systems. Die Antworten sind zwar inhaltlich korrekt, aber unvollständig. Die Normketten zwischen allgemeinem und besonderem Schuldrecht werden nicht vollständig dargestellt, und bei den deliktischen Ansprüchen beschränkt sich die Antwort auf das ProdHaftG, während die Haftung nach §§ 823 ff. BGB unerwähnt bleibt.

Beispiel 2: Kausalität

Bei der Frage “Erläutere, wann eine Pflichtverletzung für einen Schadensersatz kausal ist” zeigt sich ein ähnliches Bild. Positiv ist die Differenzierung zwischen haftungsbegründender und -ausfüllender Kausalität. Allerdings werden zentrale Fachbegriffe wie “Äquivalenz” und “Adäquanz” nicht verwendet, und der normative Schutzzweck bleibt außen vor. Im direkten Vergleich liefert Claude 3.5 hier präzisere und vollständigere Antworten.

Fallbeispiel: Der Härtetest

Besonders aufschlussreich war der Test der Dialogfunktion anhand eines einfachen Falls aus dem Bereich BGB AT. Um ein Vortraining auszuschließen, wurde ein Lehrbuch-Fall verwendet, der weder in der Beck-Datenbank noch im Internet frei verfügbar ist. Im direkten Vergleich mit Perplexity zeigten sich deutliche Schwächen:

  • Die zentrale Vollmachtsproblematik wurde nicht erkannt
  • Bei Nachfragen ging der Kontext vollständig verloren
  • Die Rechtsnatur des Anwaltsvertrags konnte nicht geklärt werden
  • In nachfolgender Antwort wurde ein nicht existentes Gesellschafterverhältnis unterstellt

Fazit: Licht und Schatten

Die “Frag den Grüneberg”-Funktion erweist sich als nützliches Tool für die gezielte Recherche einzelner Rechtsfragen. Die automatische Übernahme von Fundstellen und die intelligente Suche können den Arbeitsalltag tatsächlich erleichtern.

Allerdings rechtfertigt der begrenzte Funktionsumfang kaum den hohen Aufpreis:

  • Nur ein Jahr Nutzungsdauer
  • Beschränkung auf einen einzigen Kommentar
  • Keine Speicherung von Chatverläufen
  • Fehlende Nachfragemöglichkeiten
  • Unzureichende Dialogfähigkeit

Für die juristische Praxis bedeutet dies: Das Tool kann das klassische Arbeiten mit dem Kommentar sinnvoll ergänzen, ersetzt aber weder umfassende Recherche noch juristisches Denken. Für komplexere Rechtsfragen und Falllösungen bleiben allgemeine KI-Systeme mit ihrer breiteren Wissensbasis vorerst eine kostengünstigere Alternative.

Der Beck-Verlag sammelt mit diesem ersten Schritt in die KI-gestützte Rechtsrecherche wichtige Erfahrungen. Für die Zukunft wäre jedoch wünschenswert:

  • Integration des gesamten Verlagsprogramms
  • Verbesserung der Dialogfähigkeit
  • Längere Kontextspeicherung
  • Nutzerfreundlichere Anmeldeprozesse

Bis dahin bleibt “Frag den Grüneberg” ein interessantes, aber teures Experiment auf dem Weg zur digitalen Transformation der juristischen Arbeit. Das Produkt wirkt in vielen Teilen wie ein Beta-Test, für den die Nutzer bezahlen dürfen. 

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